Diskretion! Bitte Abstand halten!

Aus irgendeinem Grund mögen wir Deutschen Regeln, und wir achten peinlich genau auf deren Einhaltung – zumindest, wenn es darum geht das ANDERE Sie einhalten. Das wurde mir mal wieder bei ein Beispiel aus der vergangenen Woche vor Augen geführt, bei dem mir echt der Dampf aus den Ohren schoß. Da hatte nämlich ein selbsternannter Blockwart beschlossen, einem meiner Mitarbeiter mal seine Auslegung der Regeln der STVO näher zu bringen. Didaktisches Werkzeug war ein Opel, den er geschickt einsetzte, um dem Radfahrer mittels touchierens einen Spurwechsel beizubringen.
Wi-der-lich, sowas.
Aber das ist es eben: Regeln sind dafür da, damit sich andere dran halten, und WEHE NICHT.

Manche Regeln sind aber trotz ihrer Absurdität und Sinnlosigkeitso tief in uns eingesickert, das wir uns ALLE daran halten. Das Abstandsgebot ist so ein Beispiel.

Es muss Ende der 90er gewesen sein, als plötzlich in Banken und Postfilialen Linien eingezeichnet, Absperrungen gezogen und Schilder mit der Aufschrift „Diskretion! Bitte Abstand halten!“ aufgestellt wurden. Das sorgte erstmal für Irritationen, waren wir es bis dahin doch gewohnt, im Abstand von 40 Zentimetern hintereinander in der Schlange zu stehen, in der Nase zu bohren und gelangweilt in die Gegend zu gucken, während wir darauf warteten, endlich dran zu sein.

„Jaha“, hieß es dann damals, „aber WAS IST MIT DER SICHERHEIT?“ Wir sahen uns nur verwundert um. Deutschland, 90er, IN EINER BANK, wo in der Welt hätte man sicherer sein können? Wenn Terroristen oder Bankräuber zuschlagen wollten, dann MIT SICHERHEIT nicht hier. „Neinneinnein“, erklärte man uns, „Ohne Abstand bekommt jeder… DINGE… von Ihren Bank- und Postgeschäften mit. Wollen Sie das? WOLLEN SIE DAS WIRKLICH?“

Ob wir wollten oder nicht, der Abstand musste seit diesem Zeitpunkt eingehalten werden. Und diese bescheuerte Regel sickerte in die Stammhirne der Bevölkerung, und ehe wir uns versahen, hielten plötzlich alle Abstand. Zum Beispiel an der Supermarktkasse, wo alle gleich einen halben Meter zurückweichen, wenn irgendwer eine PIN eingibt. Oder an Parkautomaten, obwohl man da echt NICHTS zu verbergen hat. Auch die Schlange am Pfandautmaten hält respektvoll drei Schritte Abstand zum Einwerfenden.

Dieses dämliche Abstandshaltgebot setzt sich sogar in Bereichen fort, in denen es nicht nur schwachsinnig, sondern absolut kontraproduktiv ist. An roten Ampeln beispielsweise, wo ich immer öfter beobachte, wie das erste Auto respektvolle drei Wagenlängen zur Lichtzeichenanlage einhält, während die nachfolgenden Autos mindestens jeweils drei Meter zwischen sich und dem Vordermann frei lassen. Bei Verkehrsführungen mit kurzen Abbiegespuren natürlich voll super, aber MAN HÄLT HALT ABSTAND WEGEN DER SICHERHEIT.

Natürlich nicht dort und in angemessener Weise, wo es eigentlich angebracht wäre. Auf Autobahnen fahren die Passatfahrer bei 180 km/h mit den gleichen drei Metern Abstand hinter einander her, die sie aus der Schlange des Bankautomaten kennen, anstatt tatsächlich den halben Tachowert in Metern fernzubleiben.

Apropos Bank- und Postschalter: Deren Diskretionsregelung wird regelmäßig unterlaufen, und zwar durch die eigenen Bank- und Postangestellten. Die trompeten nämlich Schwierigkeiten mit dem Dispo und überzogene Konten mit einer Lautstärke durch die Gegend, dass man sie auch aus hundert Metern Abstand verstehen könnte. Und daran haben sie offensichtlich eine diebische Freude.

Man stelle sich das vor: Ein Land der Abstandhalter, deren subversivste Elemente Passatfahrer und Bankangestellte sind. Das sagt eigentlich alles über uns aus, was man wissen muss.
Wir. Sind. Schlimm.

Kategorien: Betrachtung | 11 Kommentare

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11 Gedanken zu „Diskretion! Bitte Abstand halten!

  1. Gerade am Banken- und Postfilialenschlater wird dann halt lauter geredet, damit die interessierte Hintermanschaft noch alles mitbekommt. so gleicht sich die zusätzliche Entfernung wieder aus. Was bin ich froh, dass man heute so vieles via Internet machen kann …..

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  2. True

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  3. Hm, wenn du Passatfahrer und Bankangestellte „schon“ für subversiv hältst, dann ist das Abstand halten aber so was von Reaktionär, das es schon wieder voll im Trend liegt, ob es nun gefällt oder nicht. 😉

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  4. Ok, jetzt bin ich entauescht! In deinem „An der Ampel halten“-Beispiel fehlt doch das entscheidende Detail. Nicht nur, dass man anfaenglich ausreichend Platz zum Vordermann laesst, dass man damit im Grunde auch Parkraum fuer eine ordentliche Mittelklasse Limousine gelassen hat. Nein, der Platz wird waehrend der Rotphase schrittweise verringert. Also anhalten (viel Platz lassen), langsam ein halben Meter vorfahren, anhalten, bis fuenf zaehlen und wieder ein halben Meter vorfahren. Dir bleiben dann nur zwei Moeglichkeiten. Du ruckelst da alle paar Sekunden ein paar Schritte hinterher, waehrend du dich fragst, warum dein Vordermann nicht gleich die komplette Wegstrecke *am Stueck* (quasi unterbrechungsfrei) zurueck legt. Oder du bleibst stehen, weil du das Spiel kennst und siehst im Rueckspiegel den mitleidigen und wissenden Blick des Hintermanns, der erneut jemanden erkannt hat (Dich!), der wieder mal nicht ordentlich zum Vordermann aufschliesst.

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  5. Queen: Retroraktionär wird nicht cool 😉
    Ramon: Oh ja, da sagst Du was. Hast Du absolut recht, solche Leute sind echt die Spezialexperten. Ich bleibe dann mittlerweile einfach stehen und denke mir: Für solche Leute ist der Sprit immer noch zu billig.

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  6. Das ist gänzlich richtig. Aus der Sicht mit Deinen Augen! 😀

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  7. Kenny

    Zu erwähnen wären auch noch die Spezialisten die nicht 3 Meter vor der Ampel, sonder die einen Meter vor der Kontaktschleife der Ampel halten. Hier haben wir teilweise noch alte Anlagen und die registrieren dann gar nichts. D.h. man steht und steht und…. Bin da schon ausgestiegen und hab ihn freundlich gebeten doch noch einen Meter vor zu fahren. Da hat es dann auch mit grün geklappt.

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  8. Mir fahren die Nachfolgenden im Supermarkt gern mit dem Wagen in die Hacken. Bißchen mehr Abstand wäre mir sehr sehr willkommen.

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  9. zimtapfel

    Ich finde so ein wenig Abstand in vielen Bereichen (nicht nur in denen, die Diskretion erfordern) gar nicht so verkehrt, da ich nur sehr ungern den heißen Atem meines Hintermannes in meinem Nacken spüre. Aber da sind viele sehr schmerzbefreit…

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  10. Für mich ist das ein deutlicher Unterschied, einmal der natürliche Schutzabstand (den gerade viele Süddeutsche nicht können) und 3 Meter Abstand…

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  11. Pingback: Zum nachdenken angeregt | Nachtschwärmer Philipp

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